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Kopfschmerzen? Alles halb so schlimm: Werfen Sie die kleine weiße Tablette ein, ein Schluck Wasser, nach zwanzig Minuten ist alles vorbei. Stress im Beruf? Fragen Sie Ihren Arzt nach Beruhigungspillen, die sind heute gang und gäbe. Schlechtes Gewissen nach der Pommesbude? Muss nicht sein: Verlangen Sie doch einen Cholesterinsenker zur Currywurst. Für jede Unpässlichkeit gibt es heute die passende Pille - verschrieben vom Arzt Ihres Vertrauens oder gleich rezeptfrei in der Apotheke. 1250 Tabletten schluckt jeder Deutsche durchschnittlich pro Jahr. Aber viel hilft nicht nur viel, sondern birgt auch Gefahren: 1,9 Millionen Deutsche sind medikamentenabhängig und weit mehr glauben, nur mit deren Unterstützung den harten Lebensalltag bestreiten zu können. Dabei spielt Selbstmedikation eine immer größere Rolle - Ärzte werden oft gar nicht mehr um Rat gefragt. Genau hier wittert die Pharmaindustrie neue Absatzmärkte jenseits der Rezeptpflicht. Woher kommt der hemmungslose Griff zur Tablette? Brauchen wir für jedes Symptom gleich eine Pille? Oder wäre es nicht besser, den Schmerz auch mal auszuhalten? Die Gäste: Maßgebend für den hohen Tablettenkonsum ist nach Markus Grill der Druck in unserer Leistungsgesellschaft: "Wir haben immer zu funktionieren und sind daher schneller bereit, Pillen zu nehmen. Den Körper wie eine Maschine am Laufen zu halten, ist aber auf Dauer kontraproduktiv." Der Journalist kritisiert vor allem die manipulativen Verkaufswege der Pharmaindustrie und die Unkenntnis vieler Ärzte, die zu einer unvernünftigen Medizin führen. Als Geschäftsführer des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie weist Dr. Siegfried Throm den Vorwurf der Verantwortungslosigkeit weit von sich. Er weiß, wie extrem streng die Richtlinien für die Zulassung eines neuen Medikaments sind. Wie Tabletten eingesetzt werden und ob sie vielleicht am Ende sogar süchtig machen, ist immer auch abhängig von Arzt und Patient. "Wir können doch nicht als Industrie die Verantwortung für alle Seiten übernehmen". Für Martin Otto steht der Nutzen hochmoderner Medikamente außer Frage. Seit fast 25 Jahren managt der unter einer generalisierten Angststörung leidende Kunsthändler sein Leben mit Psychopharmaka. "Ich habe die Tabletten immer griffbereit, aber ich nehme sie nur, wenn sich eine Panikattacke ankündigt". Mit zusätzlichen Antidepressiva kann er sein Leben beruflich und privat meistern und Verantwortung für seine Familie übernehmen. Birgit Planz dagegen hat gerade erst eine lange und zerstörerische Tablettenkarriere überwunden. Von verschiedenen Ärzten wurde sie über Jahre mit Schmerzmitteln vollgepumpt, ohne dass die Ursache für ihre Leiden erkannt wurde. "Die haben mich nicht ernst genommen und als Versuchskaninchen benutzt". Erst auf ihre Initiative hin wurde schließlich eindeutig Rheuma diagnostiziert. Nach der Entgiftung in einer Klinik kann sie jetzt gezielt und beinahe ohne Medikamente behandelt werden. Die Medizinerin und ehemalige Schauspielerin Marianne Koch bezweifelt, dass alle verschriebenen Tabletten tatsächlich auch eingenommen werden: "Es gibt eine große Tablettenangst in der Bevölkerung! Viele der verschriebenen Pillen landen im Müll." Aus langjähriger Erfahrung als Internistin mit eigener Praxis musste sie viele Patienten vom Nutzen von Medikamenten überzeugen. Außer Frage steht für sie, dass trotz Pillenwahn viele Menschen ihre Gesundheit dem medizinischen Fortschritt zu verdanken haben. Ohne Ritalin geht bei Mauricio Ritschl gar nichts. Um leistungsstark durch den Tag zu kommen, nimmt der 21-jährige Schweizer hochdosiert das Medikament, das dem Betäubungsmittelgesetz unterliegt: "Sofort nach Einnahme verspüre ich die Wirkung: Ich bin motivierter, perfektionistisch und voller Arbeitsdrang". Indes warnen Experten vor dem drastisch steigenden Konsum solcher Psychostimulanzien. Sanna Almstedt hat schon als kleines Kind jegliche Pillen verweigert. Was sie damals instinktiv tat, ist heute ihre feste Überzeugung. Für sie sind Pillen gegen jedes Wehwehchen ein Indiz für unser gestörtes und entartetes Leben. Sie selbst setzt auf rein rohköstliche Ernährung, viel Wasser und noch mehr Sport. "Iss roh und du wirst froh, iss kalt und du wirst alt", so ihr Motto. Die Pharmaindustrie ist für die Triathletin ein reines Machtkartell. An der Bar: Da die Liebe ein ganz besonderer Zustand ist, bedarf er für Claudia Kowatsch auch besonderer Behandlung. Ist man verliebt, steigt ein Hormoncocktail im Blut rapide an, wird man verlassen, stürzt er ebenso drastisch wieder ab. Dieses Wechselbad der Botenstoffe ist verantwortlich für den oft so schmerzhaften Liebeskummer. "Mit unseren Tabletten kann man sich vom Zustand des Verliebtseins lösen". Aus der afrikanischen Schwarzbohne entwickelte ihre Firma die speziellen Liebeskummerpillen.
(SWR)