37 Grad

"Ich habe ganz normal gelebt", sagt Waldtraut E. und zuckt die Schultern, nach dem Grund für ihre geistige und körperliche Fitness im hohen Alter gefragt. Die Darmstädterin ist gerade 100 geworden. Mit vielen Gästen hat sie diesen großen Tag gefeiert. Obwohl sie der Zahl, dem neuen Alter, selbst keine große Bedeutung beimisst. "Ein Tag mehr oder weniger, das macht doch keinen Unterschied." In Deutschland leben Schätzungen zufolge 13 000 Menschen, die 100 Jahre oder älter sind. Damit hat sich die Zahl der Hundertjährigen innerhalb von zehn Jahren mehr als verdoppelt. Menschen wie Waldtraut E. schauen auf zwei Weltkriege zurück, auf eine Zeitspanne, in der sich die Welt rasant verändert hat. Als die heute 100-Jährigen zur Welt kamen, fuhr man noch mit der Postkutsche. Heute beobachten sie, wie ihre Enkel im Internet surfen. Sie haben Zerstörung und Wiederaufbau erlebt, wirtschaftliche und persönliche Krisen durchgestanden. "Die Welt ist viel schneller geworden, und der Druck auf die jungen Menschen hat zugenommen", denkt Joachim K.. 1916 in Berlin geboren, lebt er heute mit seiner Frau in Kronberg. "Dass ich lebe, ist ein Geschenk und eine Gnade", sagt er. "Meine Generation wurde ja fast vollständig ausradiert." Elf Jahre lang war er Soldat, bis heute steckt eine Kugel in seinem Kopf. Nach dem Krieg begann eine erstaunliche Karriere. Krahnen ist Mitbegründer der Baumarktkette OBI, saß im Direktorium der Deutschen Bank und hat wesentlichen Anteil an der Einführung der Betriebsräte in deutschen Unternehmen. Seine Sehkraft hat stark nachgelassen, nicht aber das Interesse an politischen Themen. So lässt er sich jeden Tag aus verschiedenen Zeitungen vorlesen und diskutiert mit seinen ehrenamtlichen Vorlesern im Anschluss daran über das Zeitgeschehen. Auch Waldtraut E. will stets auf dem aktuellen Stand bleiben. Sie hat noch gute Augen, liest täglich die Zeitung. Nur ihr Gehör hat nachgelassen. Große Unternehmungen sind ihr zu anstrengend, aber sie empfängt viel Besuch. Jeden Sonntag kommen ihr Sohn, die Schwiegertochter und die beiden Enkelkinder vorbei, dann fragt sie auch mal Latein-Vokabeln ab. Ihr Frisör macht mittlerweile Hausbesuche. Genauso wie ihr Arzt. Wobei der selten kommt. "Ich bin eigentlich sehr gesund", so sagt die ehemalige Direktorin der Evangelischen Hochschule Darmstadt. "Dabei war ich früher oft kränklich." Die 100-Jährige wuchs mitten im Wald auf, "wo weit und breit keine anderen Menschen waren", ging morgens eine Stunde zu Fuß zur Schule. Nach dem Krieg wurde sie erst Sozialarbeiterin, studierte dann - als eine der ersten Frauen in Deutschland. Bescheiden sind sie, die Um-die-100-Jährigen. "Das ist die Nachwirkung des Krieges", so Joachim K. "Wer dem Tode so nahe war, der lebt danach dankbarer. Die Leute heute fragen immer nach 'mehr, mehr, mehr!', ich hatte immer 'genug, genug, genug'." Der nahende Tod ist den Menschen "um die 100" bewusst. Aber eben auch das Leben. Eingeschränkt in mancher Hinsicht. Aber immer noch lebenswert. Sie haben viel erlebt, viel zu erzählen und viel Weisheit weiterzugeben an die nachfolgenden Generationen. Und sie sind in vielerlei Hinsicht Vorbild. Denn die Zahl der 100-Jährigen wird in den nächsten Jahren stetig steigen. Und die "37°"-Dokumentation zeigt: Alt werden kann sich lohnen.