Je älter ich werde, umso mehr zieht es mich nach Masuren." Zweimal im Jahr steigt Ruth Pichotka am Essener Hauptbahnhof in den Bus und nimmt die beschwerliche Reise in die alte Heimat auf sich. Mehr als zwanzig Stunden ist die 72-Jährige dann unterwegs ins polnische Ukta, einen kleinen Ort an der südlichen Masurischen Seenplatte. Hier sucht sie Spuren, Vergangenheitsfetzen, Erinnerungen an damals. Die Stelle am Fluss Krutynia, wo ihre Mutter sie und die Geschwister als Kinder gewaschen hat. Die verfallene Weberei, in der sie nach dem Krieg mit knurrendem Magen geschuftet hat. Das Eisenwarengeschäft, das früher ein Kino war; ihr älterer Bruder hat dort als Filmvorführer gearbeitet. Diesmal, bei ihrem Winter-Besuch, will Ruth Pichotka ihre frühere Schule von innen sehen, in der sich heute polnische ABC-Schützen vorbereiten auf eine europäische Zukunft. Und sie will endlich wagen, wozu sie bisher nie den Mut gefunden hat. In Richtung Westen fahren, den gleichen Weg wie damals, als ihre Familie vor den Russen geflohen ist. Im Januar 1946 war das, Ruth Pichotka war gerade elf, und damals hat sie zum letzten Mal ihren Vater gesehen. Aber Ruth Pichotka kommt nicht nur aus Nostalgie nach Masuren; sie freut sich vor allem auf ihre polnische Freundin Sofia. Eine Freundschaft aus Kindertagen: als Ruth mit ihrer Familie nach der Flucht zurückkam nach Ukta, waren sie Nachbarinnen, das polnische und das deutsche Mädchen - Nachkriegsalltag im früheren Ostpreußen. Christel Dickti lebt von sogenannten Heimwehtouristen wie Ruth Pichotka. Im Sommer spucken große Reisebusse sie zu Hunderten auf den Hof ihrer Pension in Sadry bei Ryn (Rhein). Dann hört die umtriebige Gastwirtin viele Lebensgeschichten, und die Zeit springt um ein paar Jahrzehnte zurück. Anders als die meisten Deutschen ist Christel Dickti nie weggegangen aus Masuren. "Die Familie von meinem Mann Klaus hat hier seit Generationen einen Bauernhof bewirtschaftet, das bindet irgendwie." Dessen 200 Jahre altes Elternhaus hat Christel Dickti mit viel Liebe zu einem Bauernmuseum umgestaltet, in dem das Leben der Vorkriegszeit wieder aufersteht. Auch die Söhne der Dicktis sehen ihre Zukunft in Masuren. Waldemar (29) hat eine Hotelfachschule in Bielefeld besucht und ist jetzt angestellt im elterlichen Betrieb. In Deutschland bleiben, das war für ihn nie eine Alternative. Mit seiner polnischen Frau Julita und Söhnchen Gabriel wohnt er direkt neben den Eltern. Auch der 24jährige Daniel, der als Maschinenschlosser bei einem deutschen Autozulieferer arbeitet, will nächstes Jahr seine polnische Freundin heiraten. Den Bauplatz für ihr Haus hat er schon.
(ZDF)
Länge: ca. 45 min.
Deutsche TV-Premiere: 01.01.2007 (ZDF)
Cast & Crew
- Drehbuch: Stefanie Fink