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"Jeder fünfte Deutsche ist von Armut bedroht." Dieser Befund des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 2014 schreckte viele auf, ein Alarmzeichen für den Sozialstaat. 20,6 Prozent und damit 16,5 Millionen Menschen sind demnach von Armut bedroht. Als armutsgefährdet gilt, wer über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung verfügt. Dies betrifft in Deutschland beispielsweise eine alleinlebende Person, die über weniger als 987 Euro Einkommen im Monat verfügt. Diese offiziellen Zahlen sind unter Experten umstritten. SWR Chefreporter Thomas Leif begibt sich auf Spurensuche nach der Armut in Deutschland und fragt, warum es keinen Wohlstand für alle gibt. Bei seiner Reise begleitet ihn u. a. Prof. Dr. Gerhard Trabert vom Mainzer Verein "Armut und Gesundheit." Der Arzt und Sozialarbeiter hat sich mit einem ehrenamtlich arbeitenden Team der Aufgabe verschrieben, Obdachlose medizinisch zu versorgen und unkompliziert zu helfen. Weil, wie er sagt, das wahre Ausmaß der Armut "nicht sichtbar ist und verdrängt" werde, kümmert er sich um die wachsende Zahl der Abgehängten und Ausgegrenzten. Auch die Not derjenigen wächst, die zwar arbeiten, kleine Renten oder staatliche Sozialhilfe beziehen. Immer mehr "Einkommens-Arme" sind auf die Tafeln angewiesen, die kostenlos Lebensmittel verteilen. Gemüse, Obst und Backwaren, die vom Handel, Märkten oder Bäckereien, gespendet werden, bevor das Verfallsdatum eintritt. Leif trifft die "Kunden" der Tafeln, die ohne diese wöchentliche Versorgung nicht über die Runden kämen. Doch auch hier eskalieren die Konflikte, weil der "Futterneid" der Ärmsten gegen die Armen weiter wächst und derzeit etwa 200.000 Flüchtlinge das Angebot der Tafeln nutzen. Der Bundesverband der Tafeln warnt, dass das mögliche Angebot der Armenspeisung den zunehmenden Bedarf der Bedürftigen nicht mehr bewältigen kann. "Arm trotz Arbeit" - dieses Schicksal prägt das Leben von Hunderttausenden von Menschen, die zwar fleißig arbeiten, aber oft noch unter dem Niveau des gültigen Mindestlohns bezahlt werden. "Leif trifft" berichtet über den Alltag von Transportfahrern, die bis zu zwölf Stunden am Tag ohne Pause Pakete ausfahren und trotz stressiger Arbeit und Überstunden am Monatsende 1300 Euro netto und weniger auf der Hand haben. Sie klagen über einen "Sklavenmarkt" und "modernen Menschenhandel". Den Fahrern werde ständig zugemutet, ihre Arbeit "jenseits der rechtlichen Vorschriften" auszuüben. "Mit einem Fuß auf dem Gas mit dem anderen im Grab", so beschreibt ein Fahrer seinen Alltag. Selbst zuständige Gewerkschaftsvertreter räumen ein, dass die Kontrollen gegen die regelmäßigen Verstöße in der boomenden Branche ausbleiben oder nicht funktionieren, alle wegschauen, selbst die Gewerkschaften. Ein Stoppen der Armutsspirale scheint folglich nicht in Sicht. Nachdem SPD und Grüne die Bundestagswahl 2013 mit konkreten Vorschlägen zur Erhöhung des Spitzensteuersatzes und der Wiedereinführung einer Vermögenssteuer verloren haben, gilt das heikle Thema "Umverteilen" von Reich zu Arm als tabu. Das zuständige Bundesministerium für Soziales hatte Ende Januar zwar bekanntgegeben, dass die oberen zehn Prozent der Haushalte über mehr als Hälfte (52 Prozent) des Nettovermögens in Deutschland verfügen. Aber keine politische Kraft, mit Ausnahme der Linken, wagt sich derzeit an die Frage heran, ob die Reichen mehr Steuern oder Abgaben zahlen sollen, damit die zunehmende Armut gemildert werden kann. Am Ende der Reise quer durch das "arme Deutschland" bestätigen viele Betroffene, Armuts- und Reichtumsexperten sowie politische Beobachter den nüchternen Befund: "Arm bleibt Arm und Reich bleibt Reich."
(SWR)