Gestandene Schauspieler beim Stagediving in den Zuschauersaal. Selbstbewusstes Erben-Outing im Publikum. Rauchen erlaubt - in der allerersten Reihe! Beim Theatertreffen 2019 überraschen die eingeladenen Inszenierungen vor allem mit ihrem Mut zum Event. Dabei geht es aber nicht um noch mehr Party - dafür sind die Stücke zu düster. Vielmehr geht es um die Suche nach dem, was Theater in seinem Ursprung ausmacht. So lobt die Jury, die für die Einladungen verantwortlich ist, das Antiken-Event "Dionysos Stadt" ausdrücklich als eine "Wiederentdeckung der Geselligkeit in der Kunst". An den Münchner Kammerspielen ist der Abend ein großer Publikumserfolg. Sehnt sich der moderne Mensch in seiner Vereinzelung nach einem echten "Wir", nach einem kollektiven Erlebnis? Gibt es in unserer in Filterblasen aufgeteilten Gesellschaft überhaupt noch ein gemeinsames "Wir"? Und wenn ja - wo könnte man dieses besser heraufbeschwören als im Theater? Moderatorin Nina Sonnenberg ist bereit für das große Gemeinschaftserlebnis: Sie geht in "Dionysos Stadt", das zehnstündige Marathonstück von Regisseur Christopher Rüping, und testet den versprochenen "Theaterrausch". Wird sie dem Zauber des Dionysischen verfallen, den schon Nietzsche beschrieben hat als "wonnevolle Verzückung, die beim Zerbrechen des principii individuationis aus dem innersten Menschen emporsteigt"? Oder wird es doch eher ziemlich qualvoll - zehn Stunden auf den engen Sitzen der Berliner Festspiele? Die Luft wird auf jeden Fall nicht besser mit der Zeit. Auch das Performancekollektiv "She She Pop" stellt mit seinem Stück "Oratorium" die Frage nach dem "Wir". In einer "kollektiven Andacht" muss sich das Publikum einzelnen Gruppen zuordnen, sortiert nach ihrem Besitz. Über Geld spricht man nicht? Jetzt schon. Und übers Erben erst recht. Dazu deklamieren die Zuschauer Texte im Chor, der ja schon im antiken Theater für die breite Masse der Gesellschaft stand. Mal sehen, was noch vom Gemeinschaftsgefühl übrig ist, nachdem erst mal die Vermögensverhältnisse geklärt wurden. "Starke Stücke" ist der Slogan, unter dem 3sat seit 1996 vom Theatertreffen überträgt. Stark sind in diesem Jahr alle zehn ausgewählten Inszenierungen. Nur das Wort "Stücke" trifft es kaum noch. Unter den zehn eingeladenen bemerkenswertesten Inszenierungen gibt es nicht einen Dramentext, der nicht wiederum selbst noch einmal überschrieben wurde. Stattdessen: starke Bilder und starke Erlebnisse. Furioses Schauspieltheater, wie in Thorsten Lensings Romaninterpretation "Unendlicher Spaß". Umwerfende chorische Wucht, wie in Ulrich Rasches Maschinentheater "Das große Heft". Zauberhaft vernebelte Bilder, wie in "The Girl from the Fog Machine Factory" von Thom Luz. Kollektive Erlebnisse, die gibt es auch im Club. Poetische Bilder? Kann auch das Kino. Anregung fürs Gehirn findet man am besten in Texten und pure Emotion in der Musik. Aber alles zusammen? Das kann nur das Theater!...
(3sat)
Länge: ca. 37 min.
Deutsche TV-Premiere: 18.05.2019 (3sat)