Weiterer Titel: Weh mir
Originalpremiere: 1993
Jean-Luc Godards sprödes Meisterwerk „Weh mir“, bei den Filmfestspielen in Venedig 1993 von der Kritik gefeiert, von der Jury vergessen, beginnt mit archaischer Wucht - mit einer alten Legende vom Menschen: „Wir wissen kein Feuer mehr zu entzünden, wir kennen die Geheimnisse des Gebetes nicht mehr“ - und dann mit einem Donnerschlag. So wird das Geschehen in eine unendliche Wiederkehr des Ewiggleichen eingebettet. Denn wenn der Film anfängt, ist die Geschichte, die er erzählt, schon passiert. Der Verleger Abraham Klimt geht ihr nach, befragt Zeugen, macht sich ein Bild. Im Zentrum des Geschehens steht der alte Amphitryon-Stoff von Jupiter, der die Gestalt des abwesenden Feldherrn Amphitryon annimmt, um eine Nacht mit dessen schöner Gattin Alkmene zu verbringen. Bei Godard schlüpft er in der geheimnisvollen Landschaft am Genfer See in den Körper Simon Donnadieus und erscheint dessen junger Frau Rachel, von der er als Mensch und als Gott geliebt werden will. Diese Geschichte dient Godard als eine Art Kristallisationskern, um die herum er eine überwältigende Collage von Bildern, Tönen und Reflexionen entfaltet. „Vorschlag für einen Film“ nennt er diese filmisch-akustische Enzyklopädie, um so vielleicht den Wunsch anzudeuten, sich jeglicher Festlegung zu entziehen. Godard behauptet, er habe zu den Texten des Films nicht mehr als „Guten Morgen“ und „Hallo“ beigesteuert; alles andere reklamiert er als Fundstücke aus der Weltliteratur. Die eindringliche Seelenerforschung des italienischen Dichters Giacomo Leopardi (1798-1837), die in schwermütiger Verzweiflung endet, wird Godard zum Leitmotiv, aber auch Plautus, Molière, Heinrich von Kleist und Jean Giraudoux werden angeführt. Das schmerzliche „Weh mir“ des Titels als Ausdruck des Leidens an Gott und der Welt bleibt nicht das letzte Wort; die Hoffnung auf Erlösung klingt unüberhörbar an, wenn Godard im Wissen um die Verschränkung von Gegenwart und Vergangenheit auch auf Walter Benjamins „Geschichtsphilosophische Thesen“ zurückgreift: „Es besteht eine geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem. Wir sind auf der Erde erwartet worden. Uns ist wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat.“...
(HR)