"Vor der Kaserne, vor dem großen Tor, stand eine Laterne" - die war Mutmacher für viele Soldaten in aller Welt. "Ich möchte' noch einmal zwanzig sein" treibt Tränen in die Augen, und "Die Wacht am Rhein" beschwört fröstelnde Vergangenheit. Jeden Freitag wippen die Bewohnerinnen im Takt der Evergreens, die Marcus Kneisel auf seinem Akkordeon spielt. Mittwochs ist immer Gedächtnistraining, donnerstags Kaffeehausmusik und Tiertherapie mit Hund Clara, und samstags kochen sie gemeinsam. Das Alter hat den Bewegungsradius der Bewohnerinnen des Justina von Cronstetten Stifts im Frankfurter Westend auf ein Minimum zusammengeschrumpft. Doch der Alltag ist hier mehr als ein Warten, das sich vom Frühstück zum Mittagessen und von dort zum Abendbrot hangelt. Ein Jahr lang hat die Filmautorin Simone Jung das Leben im Altenstift begleitet. Sie hat erfahren, was es bedeutet, wenn die Vergangenheit allmählich entschwindet und die Zukunft sich nur noch in Wochen und Tagen bemisst. Sie hat erlebt, wie mühsam, aber auch wie schön die Gegenwart dennoch sein kann, wenn es wie hier junge Menschen gibt, die wissen, dass die Alten einfach nur ein paar Schritte vorausgegangen sind auf dem Weg, den alle vor sich haben. Weil Dorothee Bergmann gerne Kaffeestückchen zum Abendbrot isst, versucht Altenpflegerin Uli Kremer ihr eines zu organisieren. Weil Johanne Karisch nachts um halb fünf der kleine Hunger nach Butterbrötchen packt, schmiert ihre Nachtwache Stefan Greiner das Gewünschte. Das Altenstift ist ein Haus voller Geschichten, die vom bunten Leben, und von anderen, die von den kleinen Lücken und großen Kratern im Gedächtnis erzählen. Oft meint man, die frischen Geschichten sind eng mit den uralten verwoben, etwa wenn Johanne Karisch, Stofftierhund Paulchen im Arm haltend, am Morgen über grauen Teppichboden tappt und mit angstgeweiteten Augen ruft: "Wo bin ich? Ich weiß doch nicht, wo ich bin." Das Butterbrötchen in der Nacht hat sie längst vergessen. Sitzt ihr Sohn Karl Heinz bei ihr, dessen Anwesenheit ihr die Angst vor der Orientierungslosigkeit nimmt, schnellt Johannes Kindheitserinnerung in die Gegenwart, als wäre es gestern gewesen: wie sie zu Pflegeeltern gegeben wurde; wie sie ihr Freitags den Po wund schlugen; wie sie alleine gelassen wurde und sie die Angst packte - 89 gelebte Jahre, darunter zwei Weltkriege, Trümmerlandschaften, Wiederaufbau, Wirtschaftswunder, der Tod von Freunden und Verwandten, Verliebtheiten, Telefon, Fernsehen, Pauschalreisen mit Bus und Bahn, Computerwelten. Was ist da ein Butterbrötchen in der Nacht? Wenn das Gedächtnis ein großer Schrank mit vielen Schubfächern ist, die im Laufe eines Lebens vollgepackt werden mit Erinnerungen, so sind die Schränke der vielen Damen und wenigen Herren im Stift randvoll. Manchmal zwar, wenn sie tagträumen, gerät vielen die Chronologie der Daten ihrer Vergangenheit durcheinander - ist es ein Leben her, oder war es gestern? Doch übervoll mit Erlebtem ist da vielleicht einfach kein Platz mehr, den Besuch vom Vortag abzulegen. Während der Spanne eines Jahres fächert sich im Stift ein eigenwilliger Mikrokosmos auf, eine Geschichte, die bei der Faschingsfeier im Jahre 2004 ihren Anfang nimmt. Übers Jahr zieht manch ein Bewohner Fragmente seiner Lebensgeschichte aus dem Schoß der Zeit, auch mit Hilfe der Angehörigen. Simone Jung hat zugehört und die Bruchstücke wieder zusammengefügt. Ihr Film ist eine liebevolle, anrührende Hommage an das Alter und das Leben. Indem sie nach und nach die Lebensgeschichten erzählt, die hier aufeinandertreffen, reduziert sie die Bewohnerinnen nicht auf das heute sichtbare Bild der gebrechlichen Alten. "Butterbrötchen um halb fünf" ist ein kluger und poetischer Film voller Humor.
(hr-fernsehen)
Cast & Crew
- Regie: Simone Jung