Im Jahr 2010 feierte man die türkische Metropole Istanbul als Europäische Kulturhauptstadt. Doch schon die Kandidatur der Stadt hatte in Europa eine Debatte ausgelöst, denn wie bei der seit Jahren anhaltenden Diskussion über einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union wurde auch hier die Frage gestellt, ob diese Stadt denn tatsächlich zu Europa gehöre? "Ja", sagen die bekannten Künstler und Literaten in der Stadt, und "Ja" sagt der Autor Kamil Taylan, ein gebürtiger Istanbuler, der seit 40 Jahren in Deutschland lebt und den es doch immer wieder in diese Stadt zurückzieht - mit sehr unterschiedlichen Gefühlen. Dieser sehr persönliche Film ist eine ebenso historische wie autobiografische Stadtbegehung dieser uralten wunderbaren Stadt, die einst kulturell so reich und kosmopolitisch war wie kaum eine zweite und der der türkische Nationalismus so viele Wunden schlug. Und dennoch ist sie so vital und aufregend, dass sie immer noch das Zentrum der türkischen Künstler und Schriftsteller der Türkei schlechthin geblieben ist. Kaum einer versagt ihr seine Liebeserklärung, und fast alle schöpfen aus ihr: Orhan Pamuk, Literaturnobelpreisträger und leidenschaftlicher Istanbuler; die junge und erfolgreiche Autorin Elif Safak, die in ihren Romanen nicht wenige Tabubrüche begeht und deren Bücher riesige Auflagen erreichen; oder der türkisch-jüdische Schriftsteller Mario Levi, dessen Romanfiguren in dieser Stadt ihre Wurzeln haben und der von der untergegangenen jüdischen Welt Istanbuls erzählt. Sie alle hat der Autor getroffen, auch den griechischen Schriftsteller Petros Markaris, gebürtig aus Istanbul, dessen Familie den schrecklichen Pogrom des 6./7. September 1955 erlebt hat, bei dem die armenische und griechische Minderheit brutal vertrieben werden sollte. In diesem Film macht sich der Autor aber auch auf die Suche nach seinem persönlichen Istanbul-Märchen, die Erinnerung an eine Zeit, als die Stadt wie ein Füllhorn der Kulturen war, als Türken und Armenier, Griechen und Juden friedlich und sich gegenseitig bereichernd zusammenlebten. Das Zentrum seiner Ortsbegehung ist das Pera-Viertel, wo er aufgewachsen ist. Pera bedeutet auf Griechisch "auf der anderen Seite". Auf der anderen Seite des Goldenen Horns. In Pera haben seit dem 13. Jahrhundert zunächst Genuesen, später dann Griechen, Armenier und Juden gelebt. In Pera schlug jahrhundertlang das kulturelle Herz von Istanbul. Hier hat er mit seinen griechischen und armenischen Freunden gespielt, hat als Kind den Pogrom von 1955 miterlebt. Gibt es noch Spuren dieser ehemals so reichen, offenen und toleranten Welt von damals, bevor die türkischen Nationalisten alle fremden Kulturen bekämpften? Kamil Taylan findet Hinweise, dass sein "Märchen Istanbul" wieder Lebenszeichen von sich gibt, oder wie es Elif Safak sagt: "Millionen Menschen aus dem Mittleren Osten, aus den ehemaligen Sowjetrepubliken und aus Europa leben jetzt hier, und Istanbul ist heute wieder eine kosmopolitische Stadt." Und Orhan Pamuk: "Das alte Istanbul war sehr arm, die Menschen waren unterdrückt, sie haben ihre Identität verheimlicht. Aber Istanbul ist jetzt reicher und stärker und wieder ein Ort voller Selbstvertrauen." Und am Ende wird dieser Film, der sehr kritisch mit der politischen Vergangenheit und Gegenwart seiner Stadt und seines Landes umgeht, doch noch eine Liebeserklärung: "Ich komme immer wieder in diese Stadt zurück", sagt Kamil Taylan, "weil ich immer noch an Istanbul glaube. Ich suche nach den alten Bildern und finde immer wieder neue. Über viele freue ich mich, manche machen mich traurig und manche zornig. Aber vielleicht ist es das, was mein Märchen, was Istanbul ausmacht."...
(hr-fernsehen)
Länge: ca. 53 min.
Deutsche TV-Premiere: 27.09.2010 (arte)
Cast & Crew
- Drehbuch: Kamil Taylan