Wenige Künstler haben die Ereignisse ihrer Zeit so exzessiv miterlebt wie der Komponist Hans Werner Henze. Er war mit vielen schillernden Künstlern und Persönlichkeiten seiner Zeit befreundet, wie Luchino Visconti, W. H. Auden, Francis Bacon und Margot Fonteyn. Seine Autobiografie "Reiselieder mit böhmischen Quinten" beschreibt mit verblüffender Offenheit die Hoffnungen und Enttäuschungen seiner letzten Jahre. Es entsteht das Bild eines schwärmerischen Idealisten. "Böhmische Quinten sind Intervalle, die von böhmischen Hornisten gespielt wurden und die in den klassischen und barocken Regeln verboten waren". Henzes Buch protestiert gegen solche Einschränkungen in der Musik und im Leben. Henze konnte seine unglückliche Kindheit während des Faschismus nur in der Musik vergessen, die trotz des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs zu seinem Lebensinhalt wurde. Er studierte Komposition, begann aber seine berufliche Laufbahn als Ballettdirigent, bis er seine Kreativität in eigenen Kompositionen ausleben konnte. Seine Musik begann in den frühen fünfziger Jahren, sich von den modischen, aber dogmatischen Regeln der seriellen Musik zu entfernen, und er fand seine eigene individuelle Ausdrucksweise. In politischen Sphären ist Hans Werner Henze ein Außenseiter geblieben, dessen utopische Träume von einem humanistischen Kommunismus immer wieder von der Wirklichkeit eingeholt wurden. Dies kommt auch in seiner Autobiografie zum Ausdruck, vor allem wenn er sein Fazit des 20. Jahrhunderts zieht, in dem seiner Meinung nach die Chancen auf ein besseres Zusammenleben vertan wurden. In einem in seinem Haus in Marino bei Rom gedrehten Interview spricht Henze über sein Leben. Eigens für den Film aufgenommen wurden Ausschnitte aus der "2. Sinfonie", aus "Nachtstücke und Arien" nach Gedichten von Ingeborg Bachmann, "La Selva Incantata - Der verwunschene Wald", "7 Boleros aus 'Venus und Adonis'", mit dem Radio-Sinfonie-Orchester Frankfurt unter dem Dirigenten Markus Stenz, Solistin ist Michaela Kaune. Daneben wird Archivmaterial der vergangenen 75 Jahre zu sehen sein, von dem einiges erst seit dem Fall der Mauer und der Auflösung der Sowjetunion zugänglich ist. An den ausgewählten Werkausschnitten werden Stationen von Henzes künstlerischer Entwicklung nachvollziehbar: Seine erste Symphonie ist ein früher Ausdruck seiner künstlerischen Unabhängigkeit; "Undine", geschrieben für Frederick Ashton und Margot Fonteyn, ist in Archivaufnahmen zu sehen; "Elegie für junge Liebende", die erste Frucht eines Klassizismus, wurde entwickelt in Zusammenarbeit mit dem Dichter W. H. Auden, und "El Cimarron", basierend auf den Erinnerungen eines entlaufenen kubanischen Sklaven, das aus Henzes Liebe zu Kuba entstanden ist. Henzes Oratorium "Das Floß der Medusa" steht neben den Romanen Heinrich Bölls und den Filmen Volker Schlöndorffs als Ausdruck des Aufruhrs im Deutschland der sechziger und siebziger Jahre. Sein "Requiem" ist im Andenken an alle Freunde des Komponisten entstanden, die nicht mehr am Leben sind. Den Film rahmt die "Symphonie Nr. 9" ein, ein chorales Werk, das die Herausforderung Ludwig van Beethovens annimmt und seine Wurzeln in den Erinnerungen Henzes an den Horror des Krieges und der Tyrannei hat. - Die Sendung ist eine Co-Produktion von RM Associates und Hessischem Rundfunk von 2001; sie entstand anlässlich des 75. Geburtags von Henze. Hans Werner Henze wird am 1. Juli 80 Jahre alt.
(hr-fernsehen)
Länge: ca. 90 min.