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TV-Kritik/Review: "1899": Auch zweite Netflix-Serie der "Dark"-Macher fängt mit komplexer Düsternis ein
(16.11.2022)
Mit der hochatmosphärischen, clever verzweigten Mystery-Geschichte
Genau wie bei Disneys im "Star Wars"-Universum spielender Prestigeserie
Im weit verästelten Handlungsgeflecht von "Dark" drehte sich alles um die die Beziehungen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Auch "1899" misst der Frage, wie das Gestern, das Jetzt und das Morgen zusammenhängen, größere Bedeutung bei. Schon im Einstiegskapitel ist davon die Rede, dass viele Passagiere auf dem nach New York fahrenden Dampfer "Kerberos" ihrem früheren Leben entfliehen, all das in Europa zurücklassen wollen, was sie bedrückt und verängstigt. Jeder an Bord trägt sein Päckchen, hat Geheimnisse, die es zu verbergen gilt, und hofft in den Vereinigten Staaten, weit weg von alten Missetaten, Enttäuschungen und Traumata, auf einen unbeschwerten Neuanfang. Wenig verwunderlich sind die Geister der Vergangenheit - oft in Form von Halluzinationen auftretend, die manchmal etwas konventionell in Szene gesetzt werden - allerdings nur schwer zu verdrängen und infizieren immer wieder das Hier und Heute.
Mal mehr, mal weniger klare Einblicke in die schmerzhaften Erfahrungen liefert bereits der Anfang jeder Folge, der sich in häufig geisterhaft-unheimlichen Bildern auf das Schicksal einer bestimmten Person konzentriert. Die britische Medizinerin Maura Franklin (Emily Beecham) etwa, mit der wir erstmals in die Welt der Serie eintauchen, scheint einst gegen ihren Willen festgehalten worden zu sein, versichert sich mit Nachdruck, dass sie nicht verrückt sei, und ist auf der Suche nach ihrem Bruder, der vor wenigen Monaten mit der "Prometheus" nach Amerika reisen wollte. Das Schwesterschiff der "Kerberos" verschwand jedoch spurlos.
Zum zentralen Figurenensemble gehören neben dem deutschen Kapitän Eyk Larsen (Andreas Pietschmann), den ein schrecklicher Verlust gezeichnet hat, auch das frischgetraute französische Ehepaar Clémence (Mathilde Ollivier) und Lucien (Jonas Bloquet), das spanische Geschwisterduo Ángel (Miguel Bernardeau) und Ramiro (José Pimentão), die junge Geisha Ling Yi (Isabella Wei) und ihre ältere Begleiterin Yuk Je (Gabby Wong), die verschlagene Britin Virginia (Rosalie Craig), der blinde Passagier Jérome (Yann Gael) und eine Gruppe tiefgläubiger Dänen rund um Krester (Lucas Lynggaard Tønnesen) und seine Familie. Der Tatsache, dass die Figuren aus unterschiedlichen Ländern kommen, tragen die Macher übrigens auf der vielsprachigen Originaltonspur Rechnung. Konflikte und Missverständnisse entstehen auch deshalb, weil sich nicht alle richtig verständigen können. Genau aus diesem Grund ist es, selbst wenn die Untertitel gesteigerte Aufmerksamkeit erfordern, ratsam, der gedrehten Version den Vorzug gegenüber der Synchronfassung zu geben. Das Gefühl, sich auf einem Schiff für Auswanderer zu befinden, leidet doch massiv, wenn alle Anwesenden Deutsch sprechen.
Die erste große Wendung nimmt die Serie, als die "Kerberos" nach dem Erhalt eines Notrufs den eingeschlagenen Kurs verlässt und auf die verschollene "Prometheus" trifft. Larsen stoppt daraufhin sein Schiff und erkundet mit einem kleinen Trupp, dem sich auch Maura anschließt, den seltsamerweise menschenleeren Schwesterdampfer. Eine Entdeckung wirft mehr Fragen auf, als sie beantworten könnte. Ein aus dem Meer steigender Mann (Aneurin Barnard) gelangt unbemerkt an Bord der "Kerberos". Das ungewisse Warten heizt die Stimmung an. Und ein vom Kapitän ignorierter Befehl der Reederei sorgt erst recht dafür, dass sich Wut Bahn bricht und Streitigkeiten zuspitzen.
Spätestens gegen Ende der dritten Episode ist ordentlich Druck auf dem Kessel, wobei sich die Spannung nicht nur aus den äußeren Umständen ergibt. Auch die Schritt für Schritt offenbarten Verbindungen zwischen einzelnen Charakteren lassen das Stresslevel stetig anwachsen. Genährt wird die beklemmend-unheilschwangere Stimmung nicht zuletzt durch einen angemessen bedrohlichen, stellenweise unnachgiebig treibenden Score und die Begrenzung der Erzählung: Der Hauptteil der Geschichte spielt sich, zumindest in den ersten vier Folgen, auf einem Schiff ab, einem geeigneten Ort für ein Locked-room-Szenario, wie es im Thriller und im Horrorfilm gerne bemüht wird. Die Passagiere sind zum Ausharren verdammt, können sich nicht frei bewegen und verlieren auf engem Raum nur noch schneller die Nerven.
Jantje Friese und Baran bo Odar bauen in ihren ständig neue Haken schlagenden, dafür emotionale Tiefe gelegentlich opfernden Plot auch soziale Probleme und Verwerfungen ein. Gleich zu Beginn klingt mit Blick auf Maura Kritik am Patriarchat an. Männer, so heißt es, würden Frauen die Welt zeigen, sie dann aber von echter Teilnahme ausschließen. Immerhin darf die auf das Gehirn spezialisierte Ärztin trotz ihres Studiums nicht praktizieren. Am Beispiel der unter Deck eher kärglich hausenden Dänen verhandelt die Serie religiösen Fanatismus, der heute nicht weniger gefährlich ist als Ende des 19. Jahrhunderts. Zudem kommen in den Konfrontationen der mittellosen Gläubigen mit den wohlhabenderen Reisenden die Gräben zwischen Arm und Reich zum Vorschein - womit ebenfalls Bezüge zu unserer zunehmend stärker auseinanderdriftenden Gesellschaft hergestellt werden.
Die kreativen Köpfe hinter "1899" lassen sich nicht lumpen, verfolgen große Ambitionen, entwerfen ein gewaltiges Rätselgeflecht, das auch zur Mitte noch schwer durchschaubar ist, spielen mit Zahlen, Symbolen und dürften bestimmte Namen keineswegs zufällig gewählt haben. Dass die beiden Schiffe auf den mehrköpfigen Höllenhund Kerberos und den als Feuerbringer und Urheber der menschlichen Zivilisation bekannten Gott Prometheus, zwei Gestalten aus der griechischen Mythologie, verweisen, eröffnet allerhand Raum für Spekulationen.
Keine Frage, die Serie umgarnt uns geschickt, zieht uns hinein in den Strudel aus Fragen und Enthüllungen. Ein Mysterium, das sich in zahlreiche Richtungen auswächst, kann allerdings auch zu einer Hypothek werden. Dann, wenn unterwegs auf einmal manche Aspekte verlorengehen und am Ende unbefriedigende Antworten warten. Abschließend beurteilen kann man die neue Netflix-Produktion erst, wenn klar ist, wie Friese und bo Odar die vielen Fäden zusammenführen. Eine sicherlich nicht unlösbare, aber doch höchst knifflige Aufgabe!
Der Text basiert auf der Sichtung der ersten vier von insgesamt acht Folgen der Serie "1899".
Die Serie "1899" ist ab dem 17. November 2022 bei Netflix verfügbar.
Leserkommentare
Tupes schrieb via tvforen.de am 17.11.2022, 12.23 Uhr:
Bin gespannt, ob am Ende das rauskommt, was das ganze Aufsehen und die Vorschusslorbeeren versprechen.....Dr. Seltsam schrieb am 17.11.2022, 00.06 Uhr:
Na hoffentlich übertreiben die Macher es nicht mit ihren Handlungssträngen. Mir z. B. wird das dann schnell zu langweilig.
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