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TV-Kritik/Review: "Wir sind die Welle": Netflix-Produktion entwickelt emotionale Sogwirkung
von Ralf Döbele(31.10.2019)

Knapp einen Monat nach
In einer nicht näher identifizierten Kleinstadt bringt ein Neuankömmling vier Außenseiter zusammen. Tristan Broch (Ludwig Simon) taucht in der Oberstufe des Gymnasiums auf wie eine Erscheinung: äußerlich verlottert, aber mit erhobenem Haupt und messerscharfem Verstand. Vor allem Lea (Luise Befort) ist fasziniert und irritiert von dem "Rebell in Jogginghosen", der keinerlei Social-Media-Präsenz hat, sich mehr für die Bibliothek interessiert als für den Rest der Schule und der bei Bedarf auch Details zum Algerien-Krieg aus dem Ärmel schüttelt.
Für die rechtsnationale Clique um Mitschüler Lasse (Leon Seidel) ist Tristan nichts als eine weitere "Zecke", über die sie herfallen können. Nicht viel besser ergeht es Skaterboy Rahim (Mohamed Issa), Bauernsohn Hagen (Daniel Friedl) und der künstlerisch begabten Zazie (Michelle Barthel), die seit Monaten von Lasse und seiner Gang drangsaliert werden - und nicht nur von denen. Einstecken haben sie lernen müssen und zum Austeilen fühlten sie sich nie auch nur ansatzweise stark genug. Welche Zuflucht gibt es in einer Stadt, in der von jedem zweiten Laternenpfahl die knalltürkise Wahlwerbung der rechtsnationalen NfD prangt, wo man in jeder Hinsicht in der Minderheit zu sein scheint?
Fast alles, was die deutsche Gesellschaft in den letzten Monaten und Jahren umgetrieben hat, findet sich in "Wir sind die Welle". Erstaunlicherweise wirkt dies weder aufgesetzt noch übertrieben. Rassismus, rechtsfreie Räume, vermeintlich untätige Politiker, umstrittene Waffenexporte, Tierschutz, das Plastikproblem, Billigklamotten, vergiftetes Grundwasser, linksextreme Selbstjustiz, der Aufstieg rechtsnationaler Parteien in ganz Europa... An einem schlechten Tag kann all dies bereits in einer ganz gewöhnlichen Ausgabe der
Und doch ist sich Tristan trotz seiner Intelligenz nicht im Klaren, welche Dynamik er hier in Gang setzt - so wie einst der Lehrer Ron Jones bei seinem "The Third Wave"-Experiment in einem amerikanischen Klassenzimmer. Die Ideale und das radikale Vorgehen der fünf Freunde werden sie schließlich auf ein Partei-Event der NfD führen und zu einem Giftanschlag auf deren Spitzenkandidaten, mit dem die "Welle" scheinbar noch etwas ganz Bestimmtes vor hat.

Verfolgen wir das Entstehen einer Protestbewegung, die auch einmal zu weit geht, oder ist dies die Geburtsstunde einer Terrororganisation? Trotz der liebenswert gezeichneten Hauptfiguren, prangt diese Frage wie ein Neonschild über "Wir sind die Welle".
Wie ausgehungert nach Zuwendung, nach einem offenen Ohr und einer helfenden Hand Zazie, Hagen, Rahim und selbst die aus dem vermeintlich perfekten Zuhause stammende Lea eigentlich sind, zeigt sich daran, wie schnell sie durch nur einen kleinen Schubs von Tristan zusammenfinden. Es fällt schwer, keine Sympathien mit Tristan und seiner neuen Clique zu entwickeln, sich in sie hineinzuversetzen ist keine Kunst.

Anknüpfungspunkte gibt es mehr als genug, bei Lea, deren 18-jähriger Freund bereits wie 40 wirkt und aus ihr seine Tennis-Trophäe machen will; bei Rahim, dessen Eltern dank eines geschniegelten Investors der Rauswurf aus ihrer Altbau-Wohnung droht; bei Hagen, dessen Traum von der Übernahme des Bauernhofs seiner Eltern durch den vergifteten Boden im Umland zunichte gemacht wurde; und bei Zazie, die sich ohne Maxi-Kopfhörer kaum aus dem Haus traut und die seit Jahren einfach nur fertig gemacht wird, weil sie so ist, wie sie ist.
Für das Identifikationspotential sorgt neben der geschickten Figurenkonstellation von Chefautor Jan Berger (

Ansonsten orientiert sich "Wir sind die Welle" glücklicherweise am "Weniger ist mehr"-Prinzip. Nicht jede Szene wird mit Popmusik unterfüttert, was dem hervorragenden Score von "Die Welle"-Veteran Heiko Maile genügend Raum zum Atmen lässt. Die Atmosphäre der ersten Folgen speist sich aus ihrem Realismus, der aber dank geschickter Kameraarbeit nicht grau in grau oder deprimierend wirkt. Auch Details, wie die allzu vertraute optische Gestaltung der NfD oder die Einbindung von Social-Media-Kommunikation, vermögen durch ihre spielerische Leichtigkeit zu überzeugen. Insgesamt legt "Wir sind die Welle" in den ersten Folgen ein deutlich ruhigeres Tempo an den Tag als Dennis Gansels Film, was der Serie aber äußerst gut steht. Weniger packend ist sie keinesfalls.
Keine Gangsterbanden, kein düsteres Metropolen, keine Drogenküche, keine verschachtelten Erzählmomente, die erst zehn Folgen später mit weiteren Cliffhangern beantwortet werden: Die Geradlinigkeit und Vertrautheit dieser nur lose an die Vorlage angelehnten Adaption sind ihre größten Stärken. "Wir sind die Welle" verlagert die Beklemmung der heutigen Zeit nicht in Lebensbereiche, die viele Zuschauer kaum kennen und auch nicht in apokalyptische Endzeiten. Vielmehr packt uns die jüngste deutsche Netflix-Serie direkt dort, wo das Gezeigte Tag für Tag stattfindet: Mitten unter uns.
Dieser Text basiert auf der Sichtung der ersten drei Folgen der Serie "Wir sind die Welle"
Ralf Döbele
© Alle Bilder: Netflix
Der Streaming-Dienst Netflix veröffentlicht die sechsteilige erste Staffel von "Wir sind die Welle" weltweit am 1. November 2019.
Über den Autor
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Leserkommentare
Mork-vom-Ork schrieb am 02.11.2019, 02.51 Uhr:
Vielleicht sollte man sich von einer Serie doch noch ein paar Folgen mehr anschauen, bevor man sie voreilig so lobt.
Ich zitiere mal die TV Spielfilm: "Doch mit Folge 4 läuft nicht nur die Welle aus dem Ruder, sondern auch die Serie. ... Am Ende ist die Serie weniger die Welle 2019 als eine radikalisierte Version von die Lümmel von der ersten Bank. Fazit: Spektakulär gescheiterte Umsetzung einer tollen Idee."
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