TV-Kritik/Review: "Arcadia" warnt mit eindrucksvollen Bildern vor totaler Kontrolle

Eine Katastrophe hat die Menschheit zerschlagen. Was ist genau geschehen? Diese Frage langweilt die meisten Bewohnerinnen und Bewohner von  "Arcadia". Jetzt leben sie in einem Überwachungsstaat, der Wohlstand nach einem Punktesystem verteilt. Daher schwelgen Pieter Hendriks (Gene Bervoets,  "Tabula Rasa") und seine Familie im Luxus. Ihr Glück zerbröselt, als ein Richter (Michaël Pas) die Führungskraft ins unwirtliche Umland verbannt. Pieter wird verurteilt, weil er das Punktekonto seiner überspannten Tochter Luz (Lynn Van Royen,  "The Window") und seiner rebellischen Stieftochter Hanna (Ellie de Lange) geschönt hat. Der WDR und der SWR haben die belgisch-niederländische Produktion unterstützt. Nörgler mögen deutsche Kreative vermissen. Jedoch veredeln die eindrucksvolle Optik und einfühlsame Porträts die acht spannenden Folgen. Sie laufen an drei Abenden ab Freitag, dem 18. August in One und stehen mit dem Start in der ARD Mediathek bereit.

Score bestimmt Leben von Alex und Pieter

Alex Jans (Melody Klaver) fängt einen Verdächtigen. Sie gehört zum Schild - also der Polizei von "Arcadia". Durch ihren Erfolg bei der Menschenjagd erhöht die ehrgeizige Stieftochter von Pieter Hendriks ihren Punktestand, den sogenannten Score. Sie weiß: Wer schwache Leistungen erbringt oder Regeln missachtet, fällt mit einem niedrigen Score durch das Raster. Zusammen mit Kollegen entwickelte Pieters Großvater vor Jahren das Punktesystem. Der Enkel hat die Verantwortung und den Status geerbt. Dennoch hat er einige Scores unzulässig beeinflusst. Für diesen Trick muss Pieter ins Exil wandern, wo er nach allgemeiner Überzeugung bald sterben wird. Bei seinen Angehörigen sinkt zur Strafe der Score.

Regulator lässt Verlobungsfeier platzen

Vor diesem Absturz kennt niemand in Pieters Villa echte Probleme. Seine Frau Cato Christiaans (Monic Hendrickx,  "Die Erben der Nacht") fährt mit ihrem Ehegatten sowie Luz und Hanna zu einer Verlobung: Sie mögen Gloria Philips (Jean Janssens), die Auserwählte von Alex. Auch Pieters älteste Tochter Milly Hendriks (Abigail Abraham) und ihr Mann Jeroen (Ward Kerremans) sowie der kleine Sohn Mats (Gabriël Opdebeeck) wollen mitfeiern. Der sogenannte Regulator Marco Simons (Maarten Heijmans) erhält den telefonischen Auftrag vom Schild, das Fest von Alex und Gloria platzen zu lassen. Vor den Gästen verhaftet er Pieter und seine Lieben.

Pieters Familie steht weiter unter Verdacht

Im Verhör gesteht Pieter seine Täuschung. Im Gegenzug hofft er auf Milde für seine Familie. Aber Regulator Marco Simons glaubt, dass zumindest Cato die List erkannte. Revisor Lena Harms (Natali Broods,  "Over Water - Im Netz der Lügen") vom Sicherheitsdienst Visier drängt auf Ermittlungen. Diese Aufforderung bestätigt Marco in seinem Fanatismus. Im gleichen Geist vertraut Alex eher den Regeln als ihrem Stiefvater oder ihrer Mutter: Der Score sorgt dafür, dass jeder bekommt, was er oder sie verdient. Soldatin Milly Hendriks wird degradiert. Die angehende Ärztin Hanna Jans muss ihr Studium schmeißen.

Alex schwänzt den Abschied von Pieter für einen Termin mit Lena Harms. Im Geheimauftrag vom Visier soll die Polizistin der Vermutung nachgehen, dass einige Widerstandskämpfer den Überwachungs-Chip in ihrem Arm beeinflussen. Zunächst scheut Alex keine Denunziation. In ihrer Angst greifen auch Verwandte zu schmutzigen Methoden. Später stellt Alex ihre Überzeugungen auf den Prüfstand. Ebenso pendeln Marco Simons und Lena Harms zwischen neuen Gefühlen und dem Glauben an die ideale Gesellschaft. Derweil schließt Milly Feindschaften in "Arcadia" und in der Außenwelt. Bei den nachfolgenden Ereignissen sterben Staatsdiener und Systemkritiker.

Paradies ist woanders zu suchen

In "Arcadia" leben keine glücklichen Hirten

Die Bezeichnung "Arcadia" klingt zynisch. Sie verweist auf den antiken Mythos von Arkadien, wo glückliche Hirten im Goldenen Zeitalter lebten. In dieser Idylle blieben ihnen Mühsal und Zwänge erspart. Die Bewohnerinnen und Bewohner vom modernen "Arcadia" müssen jedoch auf ihre Leistungen und den Score achten - anders als im altgriechischen Paradies. Das Regime verspricht durchaus Nachhaltigkeit und Einklang mit der Natur. Allerdings dürften die Entscheidungsträger den Widerspruch kaum übersehen: Sie erwarten etwa keine Befreiung von der Arbeit. Vielleicht müssen Bücher wie im Filmklassiker  "Fahrenheit 451" brennen, um solche Hoffnungen zu tilgen. Doch davon ist nichts zu sehen.

Elite vereitelt nicht den Anschlag aufs Kapitol

Als die früheren Strukturen zusammenbrachen, übernahm eine kleine Gruppe die Macht. Sie sollte Überlebende der Katastrophe in eine schöne Zukunft führen. Im Gegenzug haben die meisten Menschen die totale Kontrolle akzeptiert, zumal sie den sozialen Aufstieg durch Anpassung erhoffen. Trotzdem konnte oder wollte die Elite einen letzten Gewaltausbruch nicht vereiteln: Sie festigte ihre Position, als sie bei einem Anschlag auf das Kapitol durchgriff. Mit Geschichten über diese Ereignisse bestätigt die Oberschicht, dass sie einer gerechten Sache dient. Alles schön und gut - aber was ist mit der Bevölkerung im Rest der Welt geschehen? Sind ähnliche Siedlungen über die Erde verstreut? Schade, dass die globalen Verhältnisse unklar bleiben.

Schließen Sie die Hauptfiguren in Ihr Herz

Schild, Visier und Militär stützen Gemeinwesen

In "Arcadia" vergöttern Justiz und Verwaltung den Algorithmus: Darunter ist die Methode zu verstehen, die individuelle Werte für Erwachsene bestimmt. Der Schild beobachtet die Bürgerinnen und Bürger. Das Visier handelt oft im Verborgenen. Besonderen Respekt genießt die Hüterin als eine Art Staatsoberhaupt. Zusätzlich schützt das Militär das Gemeinwesen: Soldatinnen und Soldaten deportieren etwa Feinde in die gefährliche Außenwelt und schießen auf Rückkehrer an der Grenze. Das Gesellschaftssystem ist schwierig zu durchschauen. Doch die packende Handlung verlangt gar nicht, die Zusammenhänge genau zu verstehen. Ein Gespür für die ständige Bedrohung reicht, um den zwiespältigen Charakteren zu folgen. Schließen Sie die Hauptfiguren in Ihr Herz - obwohl Alex ihre Familie gefährdet und Marco nette Leute in die Mangel nimmt.

Windiger Unternehmensboss und erschöpfte Heldin verdienen Respekt

Ohnehin vermeidet die Serie die übliche Schwarz-Weiß-Malerei. Nachvollziehbare Motive leiten etwa den verstockten Aufrührer Hugo (Gijs De Corte) im Umland von "Arcadia". Sogar dem windigen Unternehmensboss Jaak Philips (Wim Opbrouck) gebühren Respekt und Mitleid, zumal er an seiner Tochter Gloria hängt. Lediglich Hanna ähnelt einer klassischen Heldin - mit Mut und frechem Mundwerk. In der Not verrät die erschöpfte Kämpferin dem Visier einige Geheimnisse, um ein höheres Ziel zu erreichen.

"Arcadia" passt zur ARD

Kulissen und Architektur faszinieren

"Arcadia" fasziniert mit den Kulissen und der Architektur. Dynamische Linien und harte Kanten prägen den futuristischen Look, der gleichzeitig vom Verfall zeugt. Grautöne schimmern sogar durch die mageren Rasenflächen. Schreckliche Arbeitsplätze strahlen im kalten Weiß. Fassaden stellen Sichtbeton und Stahl beinahe obszön aus, ohne hässlich zu wirken. Ein seltsames Krematorium, ein renoviertes Museum und altertümliche Mietskasernen taugen als originelle Schauplätze. Als Hauptquartier vom Schild beeindruckt das Wissenschaftszentrum phæno in Wolfsburg.

Beträchtliche Abstände zwischen den Gebäuden demonstrieren die Verlorenheit der Bewohnerinnen und Bewohner. Hingegen laden die Rückzugsorte zum Aufenthalt. Angenehmes Licht durchflutet die Wohnungen der Oberschicht - und die Chefetage vom Schild sowie vom Visier. Im Gegensatz dazu umringen wüste und staubige Landschaften "Arcadia". Halbwegs schützen trauriger Wald und bröckelnde Ruinen die Menschen im Exil. Bevorzugte Stadtbewohner lustwandeln in prächtigen Grünanlagen mit fließenden Gewässern.

Machthaber erobern heimlich unseren Willen

"Arcadia" warnt vor Machthabern, die unseren Willen heimlich erobern. Der Schild und das Visier lieben vermutlich das Ministerium für Staatssicherheit der DDR. Wie die Stasi-Mitarbeiter zersetzen die Polizisten und die Agenten unbequeme Gruppen. Sie erschnüffeln gründlich das Privatleben. Ähnlich wie Nazis und Stalinisten verbiegen sie die Wahrheit - zum Beispiel durch sprachliche Täuschungen. Wie in  "1984" laufen Moralpredigten auf öffentlichen Bildschirmen. Etliche Bürgerinnen und Bürger von "Arcadia" verschenken ihre Freiheit aus Bequemlichkeit. Ferner sind sie in wirklichen oder eingebildeten Zwängen gefangen. Sie müssen funktionieren. Eigenschaften wie Gesetzestreue, Gesundheit und Gewicht bestimmen ihren Wert - so wie in China, wo die Regierung einen Score einführt.

Bitte nicht über fehlende Deutsche nörgeln!

Der Co-Produzent WDR jubelt über "Arcadia", obwohl ausschließlich Flamen und Niederländer bei der Serie mitmischen. In der Tat könnte ein vertrautes Gesicht den hiesigen Zuschauerinnen und Zuschauern gefallen. Ein zusätzlicher Drehbuchautor oder Regisseur aus Deutschland könnte abweichende Eindrücke einbringen. Ansonsten gewöhnt Streaming das Publikum an globale Standards. Zudem sind die Darsteller und andere Mitwirkende aufeinander eingespielt - durch gemeinsame Produktionen. Nicht zuletzt bildet die Sprachbarriere die höchste Hürde, solange Deutsche aus der Branche kein Niederländisch erlernen.

Bald starten Dreharbeiten zur nächsten Staffel

Hoffentlich landen weitere Serien aus Belgien und den Niederlanden auf unseren Bildschirmen. Der Score der ARD sollte sinken, weil sie "Arcadia" in One versteckt. Wahrscheinlich wirkt diese Serie zu ungewöhnlichlich für Das Erste. Jedenfalls brauchen wir Nachschub, zumal uns das Schicksal von Hanna und Alex beunruhigt. Kein Problem: Die Dreharbeiten für die Fortsetzung beginnen voraussichtlich im Herbst.

Die erste Staffel von "Arcadia" besteht aus acht Folgen - dieser Text beruht auf Sichtung der Hälfte.

Die ersten drei Teile laufen am 18. August ab 20.15 Uhr in One. Zu diesem Ausstrahlungstermin steht die komplette Serie in der ARD Mediathek bereit. Einen Tag später zeigt One die vierte, fünfte und sechste Episode - ebenfalls ab 20.15 Uhr. Am 20. August um 20.15 Uhr endet "Arcadia" in One mit zwei Folgen.